Schrankliebe oder Mutterliebe

Vor kurzem erklärte ich einem Freund das Konzept von Dear Doris, einem Kochbuch, das meiner Großmutter und ihren köstlichen Rezepten gewidmet ist. Dabei hatte ich einen Aha-Moment. Mein Freund, ein angesehener Psychoanalytiker, erzählte mir von seinem Mentor. Dieser habe mithilfe einer von ihm entwickelten speziellen Technik versucht herauszufinden, ob seine Patienten das Essen ihrer Mutter gerne mochten. Seiner Ansicht nach besteht eine Verbindung zwischen dem Kochen und der elterlichen Fürsorge.

Nährstoffe und Chemie sind nicht die einzigen Bestandteile unserer Ernährung. Es gibt auch eine ausgeprägte gefühlsbestimmte Komponente. Wir alle haben schon von emotionalem (Über-)Essen gehört oder darüber gelesen. Es hat mit unserem Wohlbehagen zu tun, weshalb die Theorie äußerst interessant für mich klingt.

Damals, als Doris noch Single war, machten sich ihre Brüder regelmäßig über sie lustig. Sie waren der Meinung, junge Männer wurden nur auf sie aufmerksam, weil sie hinter einer Sache her waren: „Schrankliebe“, womit ihre sensationelle Kochkunst gemeint war. Natürlich hatten ihre Geschwister Angst, ihre Lieblingsköchin zu verlieren. Doris verwöhnte sie nicht nur mit ihren köstlichen Gerichten, sondern schenkte ihnen damit auch etwas Liebe. Klar, dass sie darauf nicht so schnell verzichten wollten.

Seit dem Gespräch mit meinem Freund ist mir einmal mehr klar geworden, wieviel selbstgekochtes Essen und die Zeit, die man sich für die Auswahl und Zubereitung nimmt, bedeuten kann. Eines meiner Rezepte im Buch trägt den Titel „Backen ist Liebe“. Als mir die Idee für den Namen kam, wusste ich nicht, wieviel Wahrheit in dieser Aussage steckt und welche Bedeutung es haben kann, wenn wir uns die Zeit zum Kochen nehmen.

Oscar Wilde sagte einst: „Heute kennt man von allem den Preis, aber von nichts den Wert“. Kochen ist tatsächlich unbezahlbar und geht weit über die Nährstoffe hinaus. Ferner stimulieren die Aromen unseren Geist und beeinflussen unsere Gefühle.

Meine Großmutter Doris, mein Großvater Dick und ich. Mittelwales, 1977.

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Ein Jahr der Reflexion